13
Mein Körper reagiert schneller als mein Verstand, und ich renne zur Tür hinaus, über den Rasen in die Dunkelheit hinter dem Dorf der Sieger. Vom Wasser des durchweichten Bodens werden meine Strümpfe nass und ich spüre den schneidenden Wind, doch ich bleibe nicht stehen. Wohin? Wohin soll ich laufen? In den Wald natürlich. Ich bin schon am Zaun, als das Summen mich daran erinnert, wie sehr ich in der Falle sitze. Keuchend weiche ich zurück, mache auf dem Absatz kehrt und renne wieder los.
Kurz darauf befinde ich mich auf Händen und Knien im Keller eines der unbewohnten Häuser im Dorf der Sieger. Durch die Kellerschächte über mir scheinen schwache Streifen von Mondlicht herein. Mir ist kalt, ich bin nass und erschöpft, doch mein Fluchtversuch hat die Hysterie, die in mir aufsteigt, kein bisschen gedämpft. Wenn sie nicht herauskann, werde ich daran ersticken. Ich knülle mein T-Shirt vor der Brust zusammen, stopfe es mir in den Mund und schreie los. Ich weiß nicht, wie lange das so geht. Doch als ich aufhöre, habe ich fast keine Stimme mehr.
Auf der Seite zusammengekauert liege ich da und starre auf die Flecken des Mondlichts auf dem Zementboden. Zurück in die Arena. Zurück an den Ort der Albträume. Dort soll ich hin. Ich muss zugeben, dass ich das nicht habe kommen sehen.
Ich habe vieles andere gesehen. Wie ich öffentlich gedemütigt, gefoltert und hingerichtet werde. Wie ich durch die Wildnis fliehe, während Friedenswächter und Hovercrafts hinter mir her sind. Wie ich Peeta heirate und unsere Kinder in die Arena gezwungen werden. Doch nie habe ich daran gedacht, dass ich selbst wieder an den Spielen teilnehmen müsste. Warum nicht? Weil es das noch nie gegeben hat. Sieger sind bei der Ernte für immer aus dem Spiel. Das ist die Regel, wenn man gewonnen hat. Bis jetzt.
Ich finde eine Art Plane, wie man sie für Malerarbeiten benutzt, und nehme sie als Decke. In der Ferne ruft jemand meinen Namen. Doch im Moment erlaube ich mir, noch nicht mal an die zu denken, die ich am meisten liebe. Ich denke nur an mich. Und an das, was mir bevorsteht.
Die Plane ist steif, aber sie hält warm. Meine Muskeln entspannen sich, mein Herzschlag wird langsamer. Ich sehe den Holzkasten in den Händen des kleinen Jungen, sehe, wie Präsident Snow den vergilbten Umschlag herauszieht. Kann dies wirklich das Jubel-Jubiläum sein, wie es vor fünfundsiebzig Jahren niedergeschrieben wurde? Das kommt mir unwahrscheinlich vor. Es ist eine allzu passende Antwort auf die Probleme, denen sich das Kapitol heute gegenübersieht. Damit können sie mich loswerden und gleichzeitig alle Distrikte auf einen Streich bezwingen.
Ich habe die Stimme von Präsident Snow im Ohr. »Am fünfundsiebzigsten Jahrestag werden als Erinnerung für die Rebellen daran, dass nicht einmal die Stärksten unter ihnen die Macht des Kapitols überwinden können, die männlichen und weiblichen Tribute aus dem bestehenden Kreis der Sieger ausgelost.«
Ja, die Sieger sind unsere Stärksten. Sie haben die Arena überlebt und sich aus der Schlinge der Armut gewunden, die den Übrigen die Luft abschnürt. Sie, oder sollte ich sagen wir, sind die Verkörperung von Hoffnung, wo es keine Hoffnung gibt. Und jetzt sollen dreiundzwanzig von uns getötet werden, zum Zeichen, dass selbst diese Hoffnung eine Illusion war.
Ein Glück, dass ich erst im letzten Jahr gewonnen habe. Sonst würde ich alle anderen Sieger kennen, nicht nur aus dem Fernsehen, sondern weil sie bei allen Spielen zu Gast sind. Selbst wenn sie nicht als Mentoren arbeiten, wie Haymitch es immer muss, kommen die meisten von ihnen jedes Jahr zu diesem Ereignis ins Kapitol. Bestimmt sind viele von ihnen miteinander befreundet. Während es bei mir nur einen einzigen Freund geben wird, den ich womöglich töten muss - Peeta oder Haymitch. Peeta oder Haymitch!
Ich setze mich kerzengerade auf und werfe die Plane ab. Was habe ich da gerade gedacht? Eine Situation, in der ich Peeta oder Haymitch töten würde, ist völlig undenkbar. Aber einer von den beiden wird mit mir in der Arena sein, das ist eine Tatsache. Vielleicht haben sie sogar schon ausgehandelt, wer von ihnen gehen wird. Wenn doch der andere ausgelost wird, kann der eine freiwillig seinen Platz einnehmen. Ich weiß schon, wie es kommen wird. Peeta wird Haymitch bitten, ihn um jeden Preis mit mir in die Arena ziehen zu lassen. Um meinetwillen. Damit er mich beschützen kann.
Ich stolpere durch den Keller und suche nach einem Ausgang. Wie bin ich hier überhaupt hereingekommen? Ich taste mich die Treppe hinauf in die Küche und sehe, dass die Scheibe in der Tür eingeschlagen ist. Deshalb fühlt meine Hand sich also an, als ob sie blutet. Schnell laufe ich wieder hinaus in die Nacht, direkt zu Haymitchs Haus. Er sitzt allein am Küchentisch, eine halb leere Flasche Schnaps in einer Hand, das Messer in der anderen. Sturzbetrunken.
»Ah, da ist sie ja. Fix und fertig. Hast du endlich eins und eins zusammengezählt, Süße? Hast du kapiert, dass du da nicht allein reingehst? Und jetzt kommst du, um mich ... was zu fragen?«, sagt er.
Ich gebe keine Antwort. Das Fenster steht weit offen, und der Wind ist so schneidend, als wäre ich draußen.
»Der Junge hatte es leichter, das gebe ich zu. Er war schneller hier, als ich die Flasche öffnen konnte. Hat mich um eine weitere Chance gebeten, in die Arena zu gehen. Aber was willst du mir schon sagen?« Er ahmt meine Stimme nach. »Geh an seiner statt, Haymitch, denn wenn schon, dann soll lieber Peeta den Rest seines Lebens erleben als du?«
Ich beiße mir auf die Lippe, denn jetzt, da er es ausgesprochen hat, muss ich mir eingestehen, dass ich genau das will. Dass Peeta lebt, selbst wenn es Haymitchs Tod bedeutet. Nein, das will ich nicht. Er ist natürlich ein grässlicher Kerl, aber er gehört jetzt zur Familie. Wieso bin ich hergekommen?, denke ich. Was will ich hier überhaupt?
»Ich bin gekommen, weil ich einen Drink brauche«, sage ich.
Haymitch prustet los und knallt die Flasche vor mir auf den Tisch. Ich wische mit dem Ärmel darüber und trinke ein paar Schlucke, bis mir die Luft wegbleibt. Es dauert eine Weile, bis ich wieder zu Atem komme, und selbst dann noch läuft mir das Wasser aus Augen und Nase. Aber in meinem Innern brennt der Alkohol wie Feuer und das ist ein gutes Gefühl.
»Vielleicht solltest du gehen«, sage ich sachlich und ziehe mir einen Stuhl heran. »Du verabscheust das Leben doch sowieso.«
»Wie wahr«, sagt Haymitch. »Und da ich letztes Mal versucht habe, dir das Leben zu retten ... da ist es doch meine Pflicht, diesmal dem Jungen zu helfen.«
»Noch ein guter Grund«, sage ich, putze mir die Nase und hebe wieder die Flasche.
»Peeta argumentiert, dass ich, da ich mich für dich entschieden hatte, jetzt ihm einen Gefallen schulde. Egal, welchen. Und er will die Chance, wieder in die Arena zu gehen und dich zu beschützen«, sagt Haymitch.
Ich wusste es. In dieser Hinsicht ist Peeta ziemlich berechenbar. Während ich mich in dem Keller auf dem Boden gewälzt und nur an mich gedacht habe, war er hier und hat - auch nur an mich gedacht. Das Wort Scham reicht nicht aus, um das zu beschreiben, was ich empfinde. »Und wenn du hundert Leben hättest, du würdest ihn immer noch nicht verdienen, weißt du das?«, sagt Haymitch.
»Jaja«, sage ich schroff. »Keine Frage, er ist der Beste von uns dreien. Und, was willst du jetzt machen?«
»Ich weiß nicht.« Haymitch seufzt. »Vielleicht mit dir in die Arena gehen, wenn ich kann. Es spielt keine Rolle, ob bei der Ernte mein Name gezogen wird. Er wird sich einfach freiwillig melden.«
Eine Weile sitzen wir schweigend da. »Es war schlimm für dich in der Arena, oder? Wo du doch alle kennst«, sage ich.
»Ach, ich glaub, wir können beruhigt annehmen, dass es überall unerträglich ist, wo ich bin.« Er macht eine Kopfbewegung zu der Flasche. »Kann ich die jetzt mal wiederhaben?«
»Nein«, sage ich und schlinge die Arme darum. Haymitch holt eine weitere Flasche unter dem Tisch hervor und öffnet sie. Doch mir wird klar, dass ich nicht nur zum Trinken gekommen bin. Da ist noch etwas, das ich von Haymitch will. »Also gut, ich weiß jetzt, worum ich dich bitten will«, sage ich. »Wenn Peeta und ich bei den Spielen mitmachen, dann versuchen wir diesmal, ihm das Leben zu retten.«
Irgendetwas flackert in seinen blutunterlaufenen Augen auf. Schmerz.
»Wie du schon gesagt hast, schlimm wird es so oder so. Und ganz egal, was Peeta will, diesmal ist er dran. Das sind wir ihm beide schuldig.« Meine Stimme nimmt einen flehenden Ton an. »Außerdem hasst mich das Kapitol so sehr, ich bin sowieso schon so gut wie tot. Er hat vielleicht noch eine Chance. Bitte, Haymitch. Sag, dass du mir hilfst.«
Mit gerunzelter Stirn schaut er auf seine Flasche, denkt über meine Worte nach. »Also gut«, sagt er schließlich.
»Danke«, sage ich. Jetzt müsste ich zu Peeta gehen, doch ich will nicht. In meinem Kopf dreht sich alles vom Alkohol, und ich bin so fertig - wer weiß, wozu er mich überreden könnte? Nein, jetzt muss ich nach Hause und meiner Mutter und Prim gegenübertreten.
Als ich die Stufen zu unserem Haus hinauftaumele, geht die Tür auf und Gale nimmt mich in die Arme. »Ich hatte unrecht. Wir hätten abhauen sollen, als du es gesagt hast«, flüstert er.
»Nein«, sage ich. Ich kann kaum geradeaus gucken, und immer wieder schwappt Schnaps aus meiner Flasche und läuft Gale hinten über die Jacke, aber das scheint ihm nichts auszumachen.
»Es ist nicht zu spät«, sagt er.
Über seine Schulter hinweg sehe ich meine Mutter und Prim in der Tür, die sich in den Armen halten. Wir laufen weg. Sie sterben. Und jetzt muss ich auch Peeta beschützen. Damit ist das Thema vom Tisch. »Doch, es ist zu spät.« Meine Knie geben nach und er hält mich. Als der Alkohol mein Denken überwältigt, höre ich die Glasflasche klirrend zu Boden fallen. Es erscheint mir passend, denn ganz offensichtlich habe ich nichts mehr im Griff.
Als ich wieder aufwache, schaffe ich es gerade noch zur Toilette, bevor mir der Schnaps wieder hochkommt. Er brennt genauso wie beim Runterschlucken und schmeckt doppelt so übel. Nachdem ich mich übergeben habe, zittere und schwitze ich, aber wenigstens ist jetzt der größte Teil von dem Zeug wieder draußen. Trotzdem ist so viel in meinem Blut gelandet, dass ich pochende Kopfschmerzen habe, einen ausgetrockneten Mund und ein heißes Gefühl im Magen.
Ich drehe die Dusche auf und stelle mich eine Minute unter den warmen Regen, bis ich merke, dass ich immer noch in Unterwäsche bin. Meine Mutter hat mir wohl nur die schmutzige Oberbekleidung ausgezogen und mich dann ins Bett gesteckt. Ich werfe die nasse Unterwäsche ins Waschbecken und kippe mir Shampoo auf den Kopf. Meine Hände brennen und da sehe ich die kleinen, gleichmäßigen Schnitte in der einen Hand und an der Seite der anderen. Ich erinnere mich dunkel daran, dass ich gestern Nacht eine Fensterscheibe eingeschlagen habe. Ich schrubbe mich von Kopf bis Fuß ab und halte nur inne, um mich mitten in der Dusche erneut zu übergeben. Es ist hauptsächlich Galle, die zusammen mit dem süß duftenden Schaum im Abfluss verschwindet.
Als ich endlich sauber bin, ziehe ich den Bademantel über und gehe wieder ins Bett, obwohl ich klatschnasse Haare habe. Ich krieche unter die Decke und denke, dass es sich so anfühlen muss, wenn man eine Vergiftung hat. Als ich Schritte auf der Treppe höre, kommt meine Panik von gestern Nacht zurück. Ich bin nicht dafür gewappnet, meine Mutter und Prim zu sehen. Ich muss mich zusammenreißen, um ruhig und zuversichtlich zu wirken, so wie beim Abschied am Tag der letzten Ernte. Ich muss stark sein. Mühsam setze ich mich auf, streiche mir die nassen Haare von den pochenden Schläfen und reiße mich zusammen. Sie erscheinen mit Tee und Toast und sorgenvollen Gesichtern in der Tür. Ich öffne den Mund zu einer witzigen Bemerkung und breche in Tränen aus.
So viel zum Thema Starksein.
Meine Mutter setzt sich auf den Bettrand und Prim schmiegt sich an mich, und sie halten mich, trösten mich leise, bis ich mich einigermaßen ausgeweint habe. Dann holt Prim ein Handtuch und trocknet mir die Haare ab, kämmt die Knoten heraus, während meine Mutter mir Tee und Toast aufdrängt. Sie ziehen mir einen warmen Schlafanzug an und legen mir noch mehr Decken aufs Bett und ich dämmere wieder ein.
Als ich aufwache, verrät mir das Licht, dass es spät am Nachmittag ist. Auf meinem Nachttisch steht ein Glas Wasser und ich stürze es durstig hinunter. Ich fühle mich immer noch wackelig im Magen und im Kopf, aber viel besser als vorher. Ich stehe auf, ziehe mich an und flechte die Haare zu einem Zopf. Bevor ich nach unten gehe, bleibe ich auf der Treppe stehen. Ich schäme mich ein wenig dafür, wie ich auf die Neuigkeit vom Jubel-Jubiläum reagiert habe. Meine ziellose Flucht, die Sauferei mit Haymitch, die Tränen. Unter den Umständen ist es wohl in Ordnung, dass ich mich einen Tag habe gehen lassen. Trotzdem bin ich froh, dass keine Kamera in der Nähe war.
Unten umarmen meine Mutter und Prim mich abermals, doch sie wirken nicht übertrieben bewegt. Ich weiß, dass sie sich beherrschen, um es mir leichter zu machen. Wenn ich Prim ins Gesicht sehe, kann ich mir kaum vorstellen, dass sie dasselbe schwache kleine Mädchen ist, das ich vor neun Monaten am Tag der Ernte zurückgelassen habe. Diese Tortur und all das, was danach kam - die Grausamkeiten im Distrikt, der Aufmarsch der Kranken, die sie jetzt häufig selbst behandelt, wenn meine Mutter alle Hände voll zu tun hat -, hat sie um Jahre altern lassen. Sie ist auch ganz schön gewachsen; wir sind jetzt fast gleich groß, aber das ist es nicht, was sie so viel älter erscheinen lässt.
Meine Mutter schöpft mir Brühe in einen Becher und ich bitte sie um einen zweiten Becher für Haymitch. Dann gehe ich über den Rasen zu seinem Haus. Er ist gerade erst aufgewacht und nimmt den Becher kommentarlos entgegen. Beinahe friedlich sitzen wir da, nippen unsere Brühe und schauen durch sein Wohnzimmerfenster zu, wie die Sonne untergeht. Im Stockwerk über uns höre ich jemanden herumlaufen und nehme an, dass es Hazelle ist, doch ein paar Minuten später kommt Peeta herunter. Mit einer endgültigen Geste wirft er einen Pappkarton mit leeren Schnapsflaschen auf den Tisch.
»So, das hätten wir«, sagt er.
Haymitch braucht seine gesamte Energie, um den Blick auf die leeren Flaschen zu richten, also übernehme ich das Reden. »Was hätten wir?«
»Ich hab den ganzen Schnaps weggekippt«, sagt Peeta.
Das scheint Haymitch aus seiner Starre zu reißen, ungläubig wühlt er in dem Karton. »Du hast was?«
»Ich hab alles weggekippt«, sagt Peeta.
»Er kauft sich doch einfach neuen«, sage ich.
»Das wird er nicht«, sagt Peeta. »Ich hab heute Morgen Ripper ausfindig gemacht und ihr gesagt, ich zeige sie an, sobald sie einem von euch beiden was verkauft. Sicherheitshalber hab ich ihr auch was gezahlt, aber ich glaube nicht, dass sie scharf darauf ist, wieder von den Friedenswächtern geschnappt zu werden.«
Haymitch holt mit seinem Messer aus, doch Peeta wehrt es so mühelos ab, dass es erbärmlich wirkt. Wut steigt in mir auf. »Was geht es dich an, was er macht?«
»Das geht mich sogar sehr viel an. Ganz gleich, wie es ausgeht, zwei von uns müssen in die Arena und der Dritte wird Mentor sein. Wir können uns in diesem Team keine Säufer leisten. Dich schon gar nicht, Katniss«, sagt Peeta zu mir.
»Was?«, stoße ich empört hervor. Es würde überzeugender klingen, wenn ich nicht immer noch so verkatert wäre. »Gestern Nacht war ich zum ersten Mal in meinem Leben betrunken.«
»Ja, und schau dir an, in was für einem Zustand du bist«, sagt Peeta.
Ich weiß nicht, was ich von meiner ersten Begegnung mit Peeta nach der Verkündung erwartet hatte. Ein paar Umarmungen und Küsse. Vielleicht ein wenig Trost. Nicht das hier. Ich wende mich an Haymitch. »Keine Angst, ich besorg dir schon was zu trinken.«
»Dann zeige ich euch beide an und ihr könnt am Pranger ausnüchtern«, sagt Peeta.
»Was soll das?«, fragt Haymitch.
»Zwei von uns werden aus dem Kapitol zurückkommen. Ein Mentor und ein Sieger«, sagt Peeta. »Effie schickt mir Aufnahmen aller lebenden Sieger. Wir werden uns ihre Spiele anschauen und alles Menschenmögliche darüber lernen, wie sie kämpfen. Wir werden an Gewicht zulegen und stark werden. Wir werden uns aufführen wie die Karrieros. Und einer von uns wird wieder gewinnen, ob es euch beiden passt oder nicht!« Er saust aus dem Zimmer und knallt die Haustür hinter sich zu.
Haymitch und ich zucken zusammen.
»Ich kann selbstgerechte Menschen nicht leiden«, sage ich.
»Wer redet hier von leiden können?«, sagt Haymitch und saugt den letzten Rest aus den leeren Flaschen.
»Wenn es nach ihm geht, sollen wir beide nach Hause zurückkehren, du und ich«, sage ich.
»Tja, dann ist er der Gelackmeierte«, sagt Haymitch.
Doch nach ein paar Tagen erklären wir uns einverstanden, die Karrieros zu spielen, denn das ist die beste Methode, auch Peeta einzustimmen. Jeden Abend schauen wir uns die alten Zusammenfassungen der vergangenen Spiele und ihre Sieger an. Mir wird bewusst, dass wir auf der Tour der Sieger keinen von ihnen kennengelernt haben, was mir im Nachhinein merkwürdig vorkommt. Als ich das erwähne, sagt Haymitch, Präsident Snow wollte auf keinen Fall zeigen, wie Peeta und ich - vor allem ich - uns mit anderen Siegern in möglicherweise aufständischen Distrikten verbünden. Sieger haben einen besonderen Status, und wenn sie meinen offenen Ungehorsam gegen das Kapitol unterstützt hätten, wäre das politisch gefährlich gewesen. Mir wird bewusst, dass einige unserer Gegner schon betagt sein könnten, was einerseits traurig ist, andererseits beruhigend. Peeta macht ausgiebig Notizen, Haymitch liefert Informationen über die Persönlichkeit der Sieger, und langsam lernen wir die Konkurrenz kennen.
Jeden Morgen machen wir Übungen, um unsere Körper zu trainieren. Wir laufen, heben Gewichte und dehnen unsere Muskeln. Nachmittags üben wir uns in Kampftechniken, im Messerwerfen und Ringen; ich bringe ihnen sogar bei, auf Bäume zu klettern. Offiziell sollen die Tribute nicht trainieren, aber niemand versucht uns davon abzuhalten. Selbst in den gewöhnlichen Jahren zeigt sich, dass die Tribute aus den Distrikten 1, 2 und 4 mit dem Speer und mit dem Schwert umgehen können. Dagegen ist das hier gar nichts.
Nach so vielen Jahren des schlechten Lebenswandels will Haymitchs Körper sich nicht erholen. Er hat immer noch erstaunliche Kräfte, aber wenn er nur ein kleines bisschen läuft, gerät er gleich außer Atem. Und man sollte doch meinen, dass jemand, der jede Nacht mit einem Messer schläft, in der Lage sein sollte, eine Hauswand damit zu treffen, aber seine Hände zittern so schlimm, dass es Wochen dauert, bis er wenigstens das zustande bringt.
Peeta und mir dagegen bekommt der neue Tagesablauf sehr gut. So habe ich etwas zu tun. So haben wir alle etwas zu tun, etwas anderes, als uns geschlagen zu geben. Meine Mutter stellt unsere Ernährung um, damit wir zunehmen. Prim behandelt unsere geschundenen Muskeln. Madge stibitzt für uns die Zeitungen, die das Kapitol ihrem Vater schickt. Bei den Prognosen, wer der Sieger der Sieger wird, gehören wir zu den Favoriten. Selbst Gale taucht sonntags auf, obwohl er weder Peeta noch Haymitch ins Herz geschlossen hat, und zeigt uns alles, was er über das Fallenstellen weiß. Für mich ist es merkwürdig, mit Peeta und Gale gleichzeitig zu reden, aber die beiden scheinen ihre Konkurrenz um mich beiseitelassen zu können.
Eines Abends, als ich Gale zurück in die Stadt begleite, gibt er sogar zu: »Zu dumm, dass es so schwer ist, ihn zu hassen.«
»Wem sagst du das«, antworte ich. »Wenn ich ihn in der Arena einfach hätte hassen können, hätten wir jetzt nicht so ein Chaos. Dann wäre er tot und ich eine glückliche kleine Siegerin, ganz allein.«
»Und wo wären wir dann, Katniss?«, fragt Gale.
Ich zögere, ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ja, wo wäre ich mit meinem angeblichen Cousin, der nicht mein Cousin wäre, wenn es Peeta nicht gäbe? Hätte er mich trotzdem geküsst und hätte ich seinen Kuss erwidert, wenn ich frei gewesen wäre? Hätte ich mich ihm geöffnet, wenn ich mich durch Geld und Lebensmittel in Sicherheit gewiegt hätte, wenn ich an die Illusion von Unverwundbarkeit geglaubt hätte, wie man es als Sieger unter anderen Umständen tun könnte? Doch auch dann hätte die Ernte über uns, über unseren Kindern gelauert. Ganz gleich, was ich gewollt hätte ...
»Auf der Jagd. Wie jeden Sonntag«, sage ich. Ich weiß, dass er die Frage nicht wörtlich gemeint hat, aber mehr als das kann ich nicht sagen, wenn ich ehrlich sein will. Gale weiß, dass ich ihn Peeta vorgezogen habe, als ich nicht weggelaufen bin. Ich sehe keinen Sinn darin, über das zu reden, was hätte sein können. Selbst wenn ich Peeta in der Arena getötet hätte, würde ich niemanden heiraten wollen. Ich habe mich nur verlobt, um Leben zu retten, und das ist nach hinten losgegangen.
Auf jeden Fall habe ich Angst, dass ein Gefühlsausbruch Gale zu einer drastischen Handlung treiben könnte. Dass er zum Beispiel einen Aufstand in den Minen anzetteln könnte. Denn, wie Haymitch sagt, dafür ist Distrikt 12 noch nicht bereit. Womöglich sogar noch weniger als vor der Verkündung des Jubel-Jubiläums, denn am Morgen darauf sind weitere hundert Friedenswächter mit dem Zug angekommen.
Da ich nicht vorhabe, ein zweites Mal lebend aus der Arena herauszukommen, ist es gut, wenn Gale mich so bald wie möglich loslässt. Nach der Ernte möchte ich ihm ein, zwei Sachen sagen, wenn sie uns eine Stunde zum Abschiednehmen gewähren. Er soll wissen, wie wichtig er all die Jahre für mich war. Wie viel besser mein Leben war, weil ich ihn gekannt habe. Und ihn geliebt habe, wenn auch nur auf die eingeschränkte Art, zu der ich fähig bin.
Aber dazu soll ich keine Gelegenheit bekommen.
Am Tag der Ernte ist es heiß und schwül. Schwitzend und schweigend warten die Bewohner von Distrikt 12 auf dem Platz, während Maschinengewehre auf sie gerichtet sind. Ich stehe allein in einer kleinen abgesperrten Ecke, Peeta und Haymitch neben mir, auch sie eingepfercht. Die Ernte dauert nur eine Minute. Effie mit einer metallic glänzenden Goldperücke lässt den üblichen Schwung vermissen. Sie muss die Loskugel der Mädchen eine ganze Weile herumdrehen, ehe sie den einzigen Zettel herauszieht, auf dem, wie alle wissen, mein Name steht. Dann erwischt sie Haymitchs Namen. Er hat kaum Zeit, mir einen unglücklichen Blick zuzuwerfen, da hat Peeta sich schon freiwillig gemeldet.
Wir werden sofort ins Justizgebäude geführt, wo der Oberste Friedenswächter Thread auf uns wartet. »Neues Verfahren«, sagt er mit einem Lächeln. Wir werden zur Hintertür hinausgebracht und dann mit einem Wagen zum Bahnhof gefahren. Keine Kameras auf dem Bahnsteig, keine Zuschauer, die uns verabschieden. Haymitch und Effie tauchen auf, begleitet von Wachen. Friedenswächter scheuchen uns alle in den Zug und knallen die Türen zu. Die Räder setzen sich in Bewegung.
Und mir bleibt nichts anderes übrig, als aus dem Fenster zu starren, während Distrikt 12 aus meiner Sicht verschwindet und der Abschied auf meinen Lippen hängen bleib